Logos der Beteiligten

Gespräch der Vertreter der Realschulen im ‚Haus der Abgeordneten‘ in Stuttgart mit dem bildungspolitischen Sprecher der CDU, MdL Andreas Sturm, und dem parlamentarischen Berater der CDU, Dominik Ohly, am 29.02.2024
Der des Realschullehrerverbands Baden-Württemberg (RLV), die Realschulrektoren-AG (AGRR) und der Förderverein Realschule Baden-Württemberg e. V. brachten im vertraulichen Gespräch ihre klare gemeinsame Haltung zu den Gesprächen der „Bildungsallianz“ vor. Die Parteispitzen werden sich nach Ostern zu einem
weiteren Austausch in Bebenhausen treffen. In Hinblick darauf wurde die Wiedereinführung des G9 und die daraus entstehende Situation für alle anderen Schularten mit Alexander Sturm und Dominik Ohly noch einmal ausgiebig erörtert.


Zum Bild:
Von links: Dominik Ohly CDU (parlamentarischer Berater), Marlon Lamour RLV, Holger Gutwald-Rondot AGRR, Gudrun Jooß und Sven Kubick Förderverein Realschule BW, Dr. Karin Broszat RLV, Albrecht Binder AGRR, MdL Andreas Sturm CDU (bildungspolitischer Sprecher)

Sehr geehrter Herr Hagel!
Zunächst einmal möchten wir als Vertreter der Realschulen unserer Freude darüber Ausdruck geben, dass in Verbindung mit der Diskussion über G9 die anderen Schularten nicht ausgeblendet werden. Selbstverständlich hätte ein landesweiter Wechsel von G8 zu G9 Auswirkungen auf das ganze Schulsystem, vor allem aber auf die berufliche Bildung. Und genau das hat auch die CDU im Blick – das wissen wir!


Dass Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Parteien am 23.02.2024 zu Gesprächen nach Stuttgart ins Neue Schloss einlädt, ist somit zunächst ein gutes Zeichen, wären da nicht seine gezielt gesetzten Vorbemerkungen in der Presse, die weniger das G9, sondern die anderen Schularten im Land betreffen. Denn entgegen seiner Ankündigung, es sei wichtig, dass alle Akteure „ohne Vorbedingungen“ in die Gespräche hineingehen und bereit sind, sich neuen Wegen zu öffnen (vgl. SWR 02.02.2024) spricht er unverhohlen über grün/rote Wunschszenarien, die uns allergrößte Sorgen bereiten.


Wir Realschulen erleben ein Déjà-vu der besonderen Art. Anstatt der notwendigen, pragmatischen Debatte über eine Lenkung der sich im Zusammenhang mit G9 verändernden Schülerströme, spricht Winfried Kretschmann nun im neuen Jahr schon mehrmals öffentlich über eine Reduzierung der Schularten neben dem Gymnasium. Nur eine einzige weitere Sekundarschule solle es geben. Man könnte an einen schlechten Witz glauben oder an eine Zeitreise in die rot-grüne Vergangenheit.


Nachgeschoben werden medial Prof. Sliwka und sogar Prof. Thorsten Bohl (dessen Namen wie keiner sonst auf Hochschulseite für die ideologische Einführung und das Scheitern der Einheitsschule in Baden-Württemberg steht). Am 12.02. hat sich nun auch noch die Kultusministerin am Rande eines Interviews in der Badischen Zeitung geäußert und von Seiten des grünen Kultusministeriums die Zweisäuligkeit öffentlich auf die Agenda der ‚Bildungsallianz‘-Gespräche am 23.02. gesetzt.


All jene also, welche die Misere eines einstmals so erfolgreich und vielfältig differenzierten Schulsystems mit zu verantworten haben, fühlen sich berufen, es noch ein letztes Mal zu probieren, bevor die Wählerstimmen dann 2024 hoffentlich eine eindeutige Sprache sprechen. Herr Stoch, der damalige Kultusminister, wird dem Ganzen sicherlich freudig beiwohnen. Den Schaden, den er als amtierender Kultusminister uns Realschulen zugefügt hat, baden wir tagtäglich vor Ort an den
Schulen, gemeinsam mit unserer Schülerschaft und den Eltern aus! Die Zweisäuligkeit war sein Projekt. Erst 2016 konnten mit Kultusministerin Dr. Eisenmann die schlimmsten Entwicklungen ausgebremst werden. Seitdem verharren die Realschulen in einem unbefriedigenden Zustand, in dem weiterhin an der mittleren Bildung gesägt wird (z.B. Zusammenlegung der Referate im KM).


Professorin Sliwka ist für uns alle keine unbekannte Person. Sie wurde 2017 unter Kultusministerin Eisenmann von grüner Seite in den wissenschaftlichen Beirat des Kultusministeriums berufen. Seitdem berät sie mit Hang zum kanadischen und seit neustem auch dem Hamburger Schulsystem und den Unterrichtsmodellen ‚Adaptives Lernen‘ und ‚Deeper Learning‘ das grüne Kultusministerium.
In ihren Publikationen liest man viel über Vermutungen und ‚Benennung von Bedingungen für einen Erfolg‘, aber ein Nachweis, auch mit Zahlen im direkten Vergleich der Effekte, wie man es von der Wissenschaft erwarten sollte, sind Fehlanzeige. Sowie überhaupt jegliches tatsächliche Argument, was für die weitere Vereinheitlichung unseres einstmals so erfolgreichen differenzierten Schulsystems sprechen könnte, ausbleibt.


Heute, wie 2012, ausgerechnet für das Flächenland Baden-Württemberg mit seinem ausgeprägten Mittelstand eine Zweisäuligkeit vorzuschlagen, gar eine Einheitsschule als Mischung zwischen Realschule und Gemeinschaftsschule ist dann allerdings an Abgehobenheit kaum zu überbieten.
Angesichts der Entwicklung in Baden-Württemberg seit 2012 ein Hohn für uns Lehrkräfte, ganz weit weg von einem realen Schulalltag in Baden-Württemberg, aus dem Elfenbeinturm der Hochschule heraus, ohne realistische Bindung an die Schulen und an unser Land. Mit Verlaub bedarf es wahrlich mehr, um unserem Schulsystem wieder festen Boden unter den Füßen zu verschaffen und den zu erhalten. Das alleine sollte der Zweck einer ‚Bildungsallianz‘ im Sinne der Schulen sein.


Zunehmend mehr aussagekräftige Studien und der Blick in erfolgreiche Flächenländer wie Bayern und Sachsen sprechen eindeutig und mit Fakten belegt für ein leistungsdifferenziertes Schulsystem:

Der Mannheimer Soziologe Hartmut Esser hat 2020 gemeinsam mit dem Bamberger Wissenschaftler Julian Seuring eine Studie darüber veröffentlicht, wie sich eine unterschiedlich, strikt geregelte Differenzierung auf die Leistungen in der Sekundarstufe auswirkt. Die Ergebnisse der Studie besagen, dass eine Differenzierung die Effekte der sozialen Herkunft eher abschwächen denn verstärken. Die Leistungen in der Sekundarstufe nehmen dabei zu, insbesondere in der Kombination mit einer
homogeneren Zusammensetzung der Schulklassen nach kognitiven Fähigkeiten. Von der Differenzierung profitieren am Ende alle, insbesondere aber die schwächeren Kinder.

Maximilian Bach und Mira Fischer weisen 2021 in einer Studie des ZEW – Leibnitz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsförderung nach, dass Grundschülerinnen und Grundschüler mit Grundschulempfehlungen schon in der Grundschule bessere Leistungen erreichen.


In einer Umfrage des Realschullehrerverbands Baden-Württemberg sprachen sich 2023 über 4400 aktive Lehrkräfte in der überwältigenden Mehrheit für eine verbindliche Grundschulempfehlung aus 78,06%. Zählt man die Stimmen derer dazu, die sich für eine Weiterentwicklung der verbindlichen Grundschulempfehlung aussprechen, 6,6%, sind das 84,66 % der Stimmen. In einer parallel dazu durchgeführten Abstimmung der Philologen bei ihren Mitgliedern, stimmten gar 89% für eine verbindliche Grundschulempfehlung.


Diese Liste könnte man fortsetzen. Bildungsgerechtigkeit und Leistung finden in differenzierten Schulsystemen statt. Gibt es nur zwei Schularten schafft man nicht nur die Mitte unseres Schulsystems ab, sondern in Folge auch den Mittelstand unserer Gesellschaft.


Die Unterzeichnenden bitten Sie, lieber Herr Hagel, liebe CDU, erlauben Sie Personen, die das erfolgreiche differenzierte Schulsystem in BW mit zerstört haben nicht, sich erneut in fatalen Einheitsfantasien zu ergehen. An den Realschulen im Land ist man bereit, alles für gute Bildung zu tun. Eine weitere Zerschlagung bzw. Vereinheitlichung allerdings verträgt unsere Schulart nicht mehr. Wir hoffen und setzen auf Sie, dass der gesunde Menschenverstand diesmal über ideologische Wunschgedanken siegt. Es wurde wahrlich schon genügend Porzellan verschlagen.


Wir wünschen uns neben einer Stärkung des Gymnasiums auch die tatsächliche Stärkung und Profilierung der beiden seit jeher bewährten Schularten Realschule und Hauptschule und ein klares Bekenntnis zur differenzierten Bildung in Baden-Württemberg. Zu dieser Vielfalt gehören auch die Förderschulen, die Kinder mit Lernbehinderungen gezielt unterstützen, um Ihnen flankierend zu den
anderen Schularten den Weg in ihr Berufsleben zu öffnen.


Unser Land braucht in Zukunft die jeweils bestens ausgebildeten Abgänger aller Schularten dringend für die berufliche Bildung. Unterschiedliche Kinder brauchen unterschiedliche Schularten, die unterschiedliche Leistungsanreize bieten! Bildungsgerechtigkeit muss auch bedeuten, der Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Kindern durch tatsächlich unterschiedliche Schulwege gerecht zu werden.


Jedes Kind in seiner Einzigartigkeit hat das Recht, in seiner Schulart leistungsgerecht gefördert zu werden und das mit allen didaktischen und methodischen Mitteln, die dafür zur Verfügung stehen. Dies beginnt mit einer qualitativ hohen Lehrerausbildung, die schulartspezifisch qualifizierte Lehrkräfte ausbildet. Es geht weiter über einen differenzierten Unterricht, der den unterschiedlichen Kindern jeweils entsprechende Leistungsanreize setzen kann, um sie auf zukünftige Herausforderungen vorzubereiten. Und es endet in unterschiedlichen, qualitativ hochwertigen und aussagekräftigen Abschlüssen.

In diesem Sinne freuen wir uns sehr, über die weitere Zusammenarbeit mit Ihnen!

Herzliche Grüße
Gezeichnet:


Dr. Karin Broszat, Landesvorsitzende des Realschullehrerverbands Baden-Württemberg (RLV)
Sven Kubick, Vorsitzender des Realschulfördervereins Baden-Württemberg e.V.
Holger Gutwald-Rondot, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Realschulrektorinnen und Realschulrektoren Baden-Württemberg (AGRR)